Inspirationsort Chartres

Die Kathedrale von Chartres ist eines der bedeutendsten Marienheiligtümer der Welt. Gebaut wurde sie an einem Ort, an dem bereits in vorchristlicher Zeit eine Frauenfigur verehrt worden ist: Die Überlieferung spricht von der virgo paritura, einer „Jungfrau, die gebären wird“.
Mit der Schenkung der sancta camisia, dem Gewand, das Maria bei der Verkündigung getragen haben soll, erhielt Chartres im 9. Jhdt. eine der wichtigsten Reliquien des Abendlandes und wurde so zum zentralen Marienwallfahrtsort. Durch mehrere Brände zerstört, wurde die Kirche in immer größeren Dimensionen wieder aufgebaut, bis schließlich Anfang des 13. Jahrhunderts die besten Baumeister, Steinmetze und Glaskünstler der damaligen Zeit jenes Gesamtkunstwerk schufen, das als Meilenstein der Gotik in die Kulturgeschichte eingehen sollte.
Die geistige Grundlage für das gotische Bauwerk schuf die Schule von Chartres. Deren Blütezeit begann mit Bischof Fulbert im Jahr 1006.
Bis zur Gründung der Sorbonne in Paris war die Schule eines der wichtigsten Zentren für Forschung und Lehre nördlich der Alpen. Strukturiert in den Fächerkanon der Sieben Freien Künste, erfolgte in Chartres eine bis dahin nicht gekannte Bündelung an Wissen, Erkenntnis und Weisheit. Diese angestrebte „Summa des Weltganzen“, in der auch vorchristliches Wissen (z.B. pythagoräisches, ägyptisches und keltisches ) integriert wurde, war von der Hoffnung getragen, die „göttliche Ordnung der Welt“ immer differenzierter zu erfassen. Mit dem Bau der Kathedrale sollte eine sichtbare Ausformung dieser neu errungenen geistigen Weltsicht geschaffen werden: Ein Spiegel der Schöpfung, ein Kompendium christlichen Glaubens und Lebens, ein in Stein und Glas gebauter Kosmos der Erneuerung.

Inspiration für die Gegenwart

Wenngleich die Zeitgeschichte bis zur Gegenwart unzählige neue geistige Impulse und Strömungen hervorbrachte, besitzt die Kathedrale von Chartres in ihrer essentiellen Botschaft und Erneuerungskraft eine zeitlose Gültigkeit.
Mehr noch: Dieser „Tempel der Weisheit“ fasziniert und berührt die Menschen gerade in der heutigen Zeit in zunehmendem Maße. Welche Aspekte könnten der Grund für die Strahlkraft der Kathedrale von Chartres sein?

1. Ganzheitliche Weltsicht

Ganzheitliche Weltsicht

Die Kathedrale von Chartres hat ihr geistiges Fundament in den universellen theologisch-philosophischen Ansätzen der Schule von Chartres. Diese erlebte ihre Blütezeit in den Jahren 1000 bis 1200 und atmet in ihrer Weltsicht wie auch in ihrer konkreten Umsetzung im christlichen Glauben und Leben eine Weite, die heutzutage innerhalb der Institution Kirche zuweilen verloren gegangen ist.
So entspricht die Botschaft der Kathedrale dem Wunsch vieler Menschen nach einer ganzheitlichen Weltsicht, in der der Mensch eingebunden ist in die Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung.

2. Bewusstsein für Form, Rhythmus und Maß

Bewusstsein für Form, Rhythmus und Maß

Das Selbstbild der damaligen Baumeister, irdische Vertreter des großen „himmlischen Baumeisters“ zu sein, führte zu dem bestreben, in allem von Menschen Gebauten und Gestalteten den „göttlichen Gesetzmäßigkeiten“ nachzueifern. In einem Kathedralbau sollte sich Gottes Ordnung, wie sie sich in der Schöpfung manifestiert, in möglichst reiner Form zeigen. So entstanden Bauwerke, die wie zu Stein geronnene Harmonie erscheinen.
Musikalische Zahlenproportionen spiegeln sich in der Baugeometrie wieder und im Umgang mit Polaritäten wie Verdichtung und Auflösung, hell und dunkel, oben und unten wurde das rechte Maß angestrebt und Ausgewogenheit erzielt Zeitliche Rhythmen wie Tag und Nacht, der Mondzyklus oder der Jahreslauf waren von großer Bedeutung und manifestierten sich in unzähligen Darstellungen. Auf heutige Menschen wirkt die Kathedrale daher häufig ordnend und strukturierend. Sie weckt die Sehnsucht nach einem bewussten Umgang mit Form, Rhythmus, Struktur und Freiheit.

3. Gleichgewicht der Gegensätze

Gleichgewicht der Gegensätze

Die meisten Menschen empfinden beim Betreten der Kathedrale von Chartres eine strukturierte, schwingende Harmonie, obwohl oder gerade weil sie von Gegensätzen lebt: Zum Himmel aufstrebende Türme, tief in den Felsen hineinreichende Brunnenschächte, im Innenraum dann tonnenschwere Pfeiler, die fest auf der Erde stehen und in luftigen Höhen in das Gewölbe hineinwachsen und viele Kontraste mehr. Die mittelalterlichen Baumeister beherrschten die Kunst, die Polaritäten in ein Gleichgewicht auf hohem Niveau zu bringen. Der Aufbau der Architektur in Form und Funktion gehorchte einem großen Sinnzusammenhang, dem auch der Skulpturenschmuck und die Fensterbilder dienen. Besonders eindrücklich ist diese gebaute Ordnung für uns heutige Menschen in der Klangfülle der Musik zu erfahren.
Es ist das erlebbare Gleichgewicht zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, welches zwischen der Begegnung der weisheitlichen Schau des vergehenden theologischen Platonismus mit der Klarsicht und Welttüchtigkeit des aufkommenden Aristotelismus liegt. In diesem kleinen Zeitfenster der Geschichte Anfang des 13. Jahrhunderts, in dem beide Weltanschauungen ineinander strömten, entstand das Bauwerk in Chartres.
Da in der heutigen Zeit äußere Aspekte, das Sichtbar-Messbare und das Materielle überbetont sind, entsteht in vielen Menschen ein Bedürfnis nach einer besseren Ausgewogenheit von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von vita contemplativa und vita activa.

4. Werte als Fundament

Werte als Fundament

Das Wissen der damaligen Baumeister und Ikonografen war nur möglich durch das umfassende Studium der Vergangenheit und durch eine von tiefem Glauben motivierte und getragene starke Zukunftsvision, die sie das „Himmlische Jerusalem“ nannten. Auch heute noch kann das Lebensgefühl der damaligen Baumeister beim Betreten des Bauwerkes erspürt werden, dieses Eingebunden-Sein in den Strom von Vergangenheitsbewusstsein und Zukunftsvision. Daraus leiten sich Verantwortungsbewusstsein und Selbstanspruch ab, die wiederum einen ausgeprägten Kanon an Werten und Regeln zur Folge haben. Bleibende Ordnungen zu erschaffen benötigt Kontinuität und Disziplin, die nur möglich sind durch ein sicheres Fundament mit verbindlichen Werten. Hierin mag ein weiterer Grund der Faszination heutiger Menschen für die Kathedrale liegen, in einer Zeit, in der Werte zunehmend an Bedeutung verlieren und sich viele Menschen losgelöst von jeglichen Bezügen als autarkes Individuum erleben und entsprechend egozentrisch handeln.

5. Traditionsbewusstsein

Traditionsbewusstsein

Die Kathedrale von Chartres vermittelt in ihren Bildern eine tiefe Hochachtung und Verehrung für die Vorfahren und die Tradition: Vier Glasfenster zeigen beispielweise die Evangelisten als junge Männer, sitzend auf den Schultern von vier großen und erhaben dastehenden Propheten. Damit verbunden war die Aussage, dass die Evangelisten als Zwerge auf den Schultern der Propheten als Riesen zwar weiter als diese blicken können, aber nur, weil sie von ihnen getragen und emporgehoben werden. So wird das Alte zum Humus für das Neue und ermöglicht vielfältiges Wachstum – und durch Schichtung entsteht Geschichte. Eine solche Sichtweise führt zu einem starken Bewusstsein für das Weltganze nicht nur in der geographischen Ausdehnung (horizontal), sondern auch in seiner inhaltlichen und zeitlichen Dimension von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft (vertikal).

6. Ein Bauwerk für Maria

Ein Bauwerk für Maria

Schon früh in der Kirchengeschichte wurde Maria zum Sinnbild für die Kirche erhoben. Auch die Kathedrale Notre Dame de Chartres ist explizit Maria geweiht. Dies wurde durch die Schenkung der sancta camisia, dem Gewand der Maria, im 9. Jahrhundert zusätzlich bekräftigt. Eine Vielzahl an Skulpturen und Fensterdarstellungen zeigt Maria in unterschiedlichsten Facetten: Maria als Jungfrau, Gebärerin, Gottesmutter, Leidende, aber auch als Schwarze Madonna und Himmelskönigin. Für Gläubige übernimmt sie bis zum heutigen Tage die Rolle der Mittlerin und Fürsprecherin. Sie ist die Schutzpatronin für alle Mütter und Väter dieser Welt, die jede und jeder auf eigene Weise das Wissen um die Möglichkeiten und Gefahren für ihre Kinder auf Erden in sich tragen.
In den Darstellungen der Maria in Chartres werden so viele Aspekte und Qualitäten vereinigt, dass sie zudem wie ein Archetyp für das Weibliche schlechthin erscheint, wie die Personifikation der weiblichen Aspekte des Göttlichen. Maria in dieser Vielschichtigkeit neu zu entdecken ist ein wichtiger Impuls in der heutigen Zeit, sorgt es doch für ein tieferes Verständnis der Wurzeln unserer abendländischen Kultur.